Die deutschsprachige Meisterschaft im Poetry Slam

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Die Deutschsprachige Meisterschaft im Poetry Slam ist das Highlight der Slam-Kunst und ist zu einem wahren Mega-Event gewachsen. Jedes Jahr treffen sich die besten Slammer:innen zur deutschsprachigen Meisterschaft im Poetry Slam, um in einem Wettbewerb gegeneinander anzutreten. Doch warum gibt es keine „deutsche Meisterschaft“, sondern nur eine „deutschsprachige Meisterschaft“? Und wie kann man sich dafür qualifizieren?

Der “National” ist “International”

JahrWo hat die Meisterschaft stattgefunden?
1997Berlin
1998München
1999Weimar
2000Düsseldorf
2001Hamburg
2002Bern
2003Darmstadt/Frankfurt
2004Stuttgart
2005Leipzig
2006München
2007Berlin
2008Zürich
2009Düsseldorf
2010Ruhrgebiet
2011Hamburg
2012Heidelberg/Mannheim
2013Bielefeld
2014Dresden
2015Augsburg
2016Stuttgart
2017Hannover
2018Zürich
2019Berlin
2020Düsseldorf
2021Nürnberg
2022Wien
2023Bochum
2024Bielefeld
2025Chemnitz
2026Hannover

Die Meisterschaft im Poetry Slam wird seit 1997 jedes Jahr ausgetragen. Nur im Corona-Jahr 2020 gab es eine abgespeckte Variante. Im Gegensatz zu den Slam-Meisterschaften Italiens, Frankreichs oder der USA, treten bei wir gemeinsam mit Österreich, der Schweiz, Ostbelgien, Luxemburg, Lichtenstein und Südtirol an. Aus diesem Grund wird sie als „deutschsprachige Meisterschaft“ bezeichnet: sie vereint die gesamte Slam-Szene deutscher Sprache. Während man früher szeneintern vom (englisch ausgesprochen) „National“ oder auch „Näschi“ sprach, ist das heute anders: Slammer:innen sagen entweder „International“ (was natürlich wieder falsch ist, weil nicht zu verwechseln mit der Slam-Weltmeisterschaft), oder einfach den Namen des nächsten Austragungsorts: Man fragt: „Hast du nen Startplatz für Bochum?“ und meint: Für die deutschsprachigen Slam-Meisterschaften 2023 in Bochum.

Das Verrückte dabei ist: Obwohl die Szene Deutschlands zu den weltweit größten Slam-Szenen zählt, gibt es keine „Deutsche Meisterschaft“. Während die Schweiz oder Österreich jeweils zusätzlich zur „deutschsprachigen“ Meisterschaft eine eigene „Schweizmeisterschaft“ bzw. den „Ö-Slam“ haben, hat sich das in Deutschland nie etabliert.

Also gibt es gar keine deutschen Meister:in im Poetry Slam?

Genau. Auch wenn bisher nur ein einziger deutschsprachiger Meister nicht aus Deutschland kam. Der Vorteil davon: Die Meisterschaften sind noch größer. Mit den anderen deutschsprachigen Ländern gemeinsam ist aus der Meisterschaft ein vieltägiges Event geworden. Der Nachteil: Für Szene-Fremde klingt das alles andere als griffig. Und oft wird in den Medien dann fälschlich doch wieder verkürzt vom „deutschen Meister“ gesprochen. Ganz zu schweigen von Fragen wie: Wer dürfte Deutschland bei den Europa- oder Weltmeisterschaften vertreten?

Wo findet die deutschsprachige Meisterschaft statt?

Die deutschsprachige Meisterschaft im Poetry Slam wird jedes Jahr von einem anderen Veranstalter ausgerichtet. Das sind erfahrene Slam-Veranstalter:innen aus der Szene. Bei jeder Meisterschaft bewerben sich neue Veranstaltende um die Ausrichtung des übernächsten Jahres. Beim „Slammaster-Meeting“ wird dann entschieden, wer den Zuschlag bekommt. Oft gibt es darum nicht allzu viel Konkurrenz. Denn ein Event mit 80-100 Poets und tausenden Zuschauer:innen ist viel Arbeit. Und ein hohes finanzielles Risiko.

Wer darf bei den deutschsprachigen Meisterschaften starten?

Um sich für die deutschsprachige Meisterschaft zu qualifizieren, muss man nominiert werden. Das hat sich über die Jahre stark geändert: In den ersten Jahren gab es nur eine handvoll Poetry Slams in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Jeder Slam nominierte eine:n seiner aktivsten Poet:innen nach Gutdünken. Aber während es immer mehr Slams gab, blieb die Zahl der nominierungsberechtigten Events beschränkt: Denn man wollte und konnte ja nicht unbegrenzt viele Startplätze bei den Meisterschaften – das hätte das Event zu groß und teuer für die damalige Zeit gemacht. Also galt: die X ältesten Slams dürfen schicken. Das Problem: Das waren immer die Gleichen. Und nach ein paar Jahren regte sich Unmut in der Szene von Seiten der Veranstaltenden und Poet:innen, die jenseits der „alten großen“ Slams aktiv waren.

Die Surmann-Poeck-Formel

Auftritt: Die Surmann-Poeck-Formel. Gemeinsam setzten sich der Slammer und Verlagschef Volker Surmann und der Haus- und Hofstatistiker der Slamszene Arne Poeck zusammen, und entwickelten eine komplexe Formel. In die Wahl nominierungsberechtigter Slams flossen nun ein: Das Alter des Slams, die Häufigkeit im Jahr, und: wie lange durfte dieser Slam nicht nominieren. Nur die ältesten 4 „Gründer-Slams“ behielten eine Dauerkarte, aus historischen Gründen. (Ebenso wie die inzwischen etablierten Landesmeisterschaften.) Und Österreich und die Schweiz machten nochmal ihr eigenes Ding. Dadurch kam mehr Abwechslung in die Sache: Neue Poet:innen kamen zu den Meisterschaften. Die Line-Ups wurden diverser, die Veranstaltenden wurden besser repräsentiert, und es kam zu viel mehr Austausch in der Szene. Zeitgleich wurden die Meisterschaften immer größer: Inzwischen dauert das Festival 4-5 Tage. Es gibt Rahmenprogramm, Aftershow-Partys und mehrere tausend Zuschauern.

Aber natürlich war auch dieses System nicht perfekt. Denn wie ein nominierungsberechtiger Slam entschied, wen sie zu den Meisterschaften schicken, blieb unreguliert. Ein Slam-Master konnte also ein Jahres-Best Of mit den Saison-Gewinner:innen organisieren. Oder man schickte, wen immer man als Host am poetisch interessantesten fand. Das Ergebnis war durchaus oft: „Vetternwirtschaft“ und Mauschelei. Künstler:Innen, die seit langem nicht mehr aktiv auf normalen Slams waren, ergatterten sich so einen Startplatz. Aber gleichzeitig gab es die Chance auf mehr Repräsentation. Und Startplätze für Leute, die zwar poetisch spannend, aber keine „Publikumsrenner“ waren.

Offizielles Logo des SLAM23, der Deutschsprachigen Meisterschaft in Bochum. (c) WortLautRuhr

Das Bochumer Meisterschafts-System

2022 verkündeten die Veranstalter der Meisterschaft in Bochum 2023 (Wortlautruhr) ein neues System, das die ganze Szene in Aufruhr brachte: Das Surmann-Poeck Modell wurde abgeschafft.

Dürfen die das überhaupt? Ja! Denn es gibt in Deutschland keinen übergreifenden Dachverband. Anders als in fast allen Ländern übrigens! (Aber das ist genug Stoff für einen eigenen Blogbeitrag.) Es herrscht die sogenannte „Veranstalterautonomie“. Wer immer sich den Stress antut, die Meisterschaften zu organisieren, darf über Format, Regularium und Co entscheiden. Das hat durchaus seine Vorteile. Und das machten sich die Bochumer zu Nutze:

Das neue Modell ist einfacher. Es legt den Fokus innerhalb Deutschlands auf die Landesmeisterschaften: Je nach Bevölkerungszahl bekommen die Bundesländer eine fixe Anzahl Startplätze, die über die Landesmeisterschaften vergeben werden. Die Region Berlin-Brandenburg bekommt 5 Plätze. Rheinland-Pfalz kriegt 3. NRW kriegt 9. Und so weiter.

Was heißt das für Berlin-Brandenburg?

Die 5 besten Poet:innen aus der Berlin-Brandenburger Landesmeisterschaft fahren nach Bochum. (Österreich und Schweiz wurde allerdings weiterhin überlassen, nach eigener Manier über ihre Starter:innen zu entscheiden.) Der Vorteil: Weniger Mauschelei und mehr Transparenz. Auch Szene-Fremden kann man nun recht leicht erklären, warum jemand zu den Meisterschaften kommt. „Ich trete als einer von fünf Leuten für Berlin an“ ist einfach etwas verständlicher als: „Ich trete für den 80-Leute-Slam in Neukölln an, weil der seit fünf Jahren nicht mehr nominieren durfte aber seit 9 Jahren existiert.“
Der Nachteil: Mehr Wettbewerbsorientierung. Du kannst nur zu den Meisterschaften kommen, wenn das Publikumsvoting dich unter die besten X Plätze hieft. Und: Manche Bundesländer haben eine stärkere Slam-Szene, als die bloße Bevölkerungszahl vermuten lassen würde.

Weil es um die stärkere Wettbewerbsorientierung einigen Protest gab, wurde eine zweite Anpassung ergänzt: Eine Landesmeisterschaftsregion kann sich entscheiden, nur die Hälfte der Plätze über die Landesmeisterschaften zu vergeben. Die andere Hälfte könne ein Gremium aus allen Slam-Veranstaltenden der Region frei vergeben. Nach welchen Kriterien, das müsse sie öffentlich machen. Meine persönliche Meinung: Das öffnet der Mauschelei wieder alle Türen. Aber da gibt es natürlich unterschiedliche Perspektiven zu. Berlin-Brandenburg hat sich gegen diese angepasste Option entschieden und vergibt alle 5 Plätze über die Landesmeisterschaft.

Das sind unsere Starter:innen für die Meisterschaft!

Bei den Berlin Brandenburg Meisterschaften im Poetry Slam diesen März haben sich neben der Gewinnerin Lisa Pauline Wagner vier weitere Poet:innen qualifiziert, um Berlin und Brandenburg in Bochum 2023 zu vertreten.

(Alle Fotos: (c) Weixelbraun)

Meisterschafts-Kontroverse

Wen immer man fragt, jeder scheint eine andere Meinung zum “neuen System” zu haben. Aber letztlich werden wir erst in Bochum herausfinden, zu welchen Effekten es führte. Mehr stilistische Vielfalt oder weniger? Mehr Diversität oder gleich viel? Es gibt viele gute Argumente auf allen Seiten. Und letztlich wird das Orga-Team der nächsten Meisterschaft – in Bielefeld – angesichts der Ergebnisse entscheiden müssen, ob sie das Bochumer System behalten wollen, oder zurück zum Surmann-Poeck-Modell gehen. Oder gar etwas ganz Neues machen.