Was ist ein Poetic Recording?

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Poetic Recording? Bitte was? Konferenzen und Unternehmensevents strotzen leider oft von etwas zähen Redebeiträgen. Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Vorsitzende, Kaffeepause hier, kaputte Beamer da. Seit einigen Jahren findet man jedoch immer öfter am Ende einer Tagung einen jungen Poeten oder Poetin auf die Bühne, die Hände noch leicht am Zittern vom Schreiben, und manisch ein paar Blätter ordnend. Und dann werden die Geschehnisse des Tages zusammengefasst – aber als literarisches Feuerwerk. Manchmal gereimt, manchmal voller Punchlines, und bestenfalls: faszinierend. Das Publikum wird mitgerissen in eine Reise durch ihren Tag, mit Witz und Poesie.
Dann sitzt das Publikum da und denkt sich: Was ist denn hier gerade passiert? Das ist doch alles gerade eben erst passiert?!

Das, meine Damen und Herren, war ein Poetic Recording.

Poetic Recordings sind die Königsdisziplin von Auftrags-Poesie. Sie verlangen den Poet:innen viel ab: stundenlange Aufmerksamkeitsspanne, akribische Vor-Recherche, hohe Geschwindigkeit im Schreiben und enormem kreativem Output.

Dazu kommt eine gewisse Stress-Resistenz und Fehlertoleranz, und nicht zuletzt muss man in der Lage sein, den Text fehlerfrei und anregend vorzutragen, ohne ihn einmal geprobt zu haben. Deshalb gibt es nur wenige Poet:innen, die regelmäßig und erfolgreich Poetic Recordings durchführen.

Die Erfinderin

Erfunden wurden Poetic Recordings 2016 von der Poetry Slammerin Dominique Macri, als eine Fusion von Poetry Slam, Improtheater und den bereits etablierteren Graphic Recordings. Macri ist seit vielen Jahren in der Poetry Slam Szene etabliert, und bis heute aktiv.

Wie macht man ein Poetic Recording?

Vorbereiten

Auch wenn es für das Publikum aussieht, als wäre alles erst gerade eben passiert, beginnt ein Poetic Recording natürlich viel früher. Denn trotz aller Erfahrung bereiten Profis sich schon viele Tage früher auf den Anlass vor.

Zunächst ist da das Briefing und der Zeitplan. Was findet wann statt? Gibt es gleichzeitig stattfindende Sessions? Wie heißen die Referent:innen? Gibt es Besonderheiten zu den Räumlichkeiten? Zur Vorbereitung gehört, sich im Event zurechtzufinden, als hätte man es selbst geplant. Denn während der Konferenz haben wir wenig Zeit, um uns zu orientieren. Wenn wir zwischen zwei Breakout-Sessions wechseln müssen, müssen wir mühelos in neue Räume huschen. Wenn der Name eines Referenten nicht auf der Folie steht, müssen wir ihn trotzdem kennen.

Auch thematisch bereiten wir uns vor. Im besten Fall, kennt man nicht nur das Oberthema der Konferenz, sondern hat sich auch intensiv mit Vokabular, internen Debatten und Basis-Wissen beschäftigt.

Denn auf einer Tagung über Verkehr will man sich nicht mittendrin fragen, was “multimodale Lösungen” sind. Auf einem Erneuerbare-Energien-Event sollte man nicht nur wissen, was der Klimawandel ist, sondern auch von den Problemen im Netzausbau zum Transport von Küsten-Windenergie nach Bayern und der Rolle des Naturschutzes bei dieser Debatte schon gehört haben. Nur so können wir wirklich ins Detail gehen, ohne erst zwischenrecherchieren zu müssen – denn da haben wir schlicht keine Zeit für. Nur so können wir den witzigen Versprecher des Vorstands einordnen, oder die kluge Side-Note der Speakerin.

Ankommen

Vor Ort haben wir dann meist eine halbe Stunde Zeit, während die Tagungsgäste eintrudeln. Namensschildchen, Kaffeemaschine, “ach, Sie kenne ich doch schon von der letzten Konferenz”. Ein kurzer Sound-Check mit den Technikern, WLAN einrichten, und schon stehen wir mit aufgeklapptem Laptop an einem Stehtisch. Während die Konferenz-Teilnehmenden sich noch Zeit lassen, sind wir schon voll im Arbeitsmodus.

Denn: Auch die Stimmung vor der Konferenz, während Pausen und Mahlzeiten ist ein wichtiger Teil des Events – und gehört natürlich in unsere Texte. Mit halbem Ohr lauschen wir den Kaffeetisch-Gesprächen. Und glaubt uns, wenn der Kaffee leer ist, merken wir das genauso schnell wie die Gäste – mit großer Wahrscheinlichkeit taucht diese Beobachtung genauso in unserem Text auf wie die Top-Five-Ergebnisse des berühmten Speakers. Außerdem nutzen wir diese Zeiten, um uns ein Konzept zu bauen. Wie spannen wir den Story-Verlauf? Verwenden wir eine große Metapher? Haben wir vielleicht schon eine Idee für Anfang und Ende des Textes?

Recorden

Schließlich beginnt die Konferenz. Wahrscheinlich bemerken die Gäste uns inzwischen gar nicht mehr. Wir sitzen irgendwo in der letzten Reihe oder stehen an einem Tisch und tippen blind in zwei Dokumenten gleichzeitig. Natürlich haben alle Poetic Recorder:innen unterschiedliche Methoden – manche schreiben per Hand, manche auf Laptop oder Tablet.

Ich persönlich habe immer zwei Dokumente offen: “recording.doc” und “poetic.doc”, jeweils halber Bildschirm. Links schreibe ich, was geschieht. In Stichpunkten und ohne Struktur, Halbsätze, Absätze, ganze Zeilen als Zitat mitgetippt. Rechts schreibe ich das, was es nachher vorzutragen gilt. Ich übersetze die Inhalte von links nach rechts in Poesie, füge Reime und Metrum hinzu. Im ersten Drittel der Tagung sammele ich noch mehr, und das “recording.doc” wächst rasant auf mehrere Seiten. Sobald ich genug Inhalte (und Zeit für Ideen) habe, wird übersetzt. Und ab da holt das “poetic.doc” immer schneller auf, in jeder inhaltlichen Pause auf der Bühne eine weitere Zeile auf der rechten Seite. Irgendwann schreibe ich in Echtzeit auf der Lyrik-Seite.

Am Ende wird es nochmal besonders stressig: Denn oft gibt es keine Pause zwischen dem letzten “zu recordenden” Inhalt und dem eigenen Auftritt. Vielleicht eine knappe Moderation oder ein paar Dankesworte. Zwei Minuten, vielleicht fünf. Deshalb ist es sinnvoll, das Ende des Gedichts nicht am Ende des Tages zu schreiben – sondern zum Beispiel in der Mittagspause. Denn die letzten Zeilen des Textes müssen besonders stark sein! Oft sind es die einzigen Zeilen, die ich mehr als einmal überarbeite.

Trotzdem: der letzte Input muss noch innerhalb kürzester Zeit in Kunst umgewandelt werden. Dann noch schnell das Dokument speichern (bzw. Papierblätter ordnen) und schon geht’s auf die Bühne!

Welche Technik bei Poetic Recordings

Was braucht’s auf der Bühne?

Für die Auftraggeber ist das Stage-Set-Up im Vergleich zu den meisten anderen Künstler:innen sehr einfach: Ein Mikro, ein Mikrostativ, ein (Sound)Monitor, ausreichende Beleuchtung. Lasst das Rednerpult weg. Alles andere ist optional: Natürlich könnt ihr ein bisschen Licht-Zauberei, eine Nebelmaschine und einen Soundeffekt an dieser einen Stelle machen. Aber weniger ist mehr. Nur: Das Stativ. Kann man nicht oft genug erwähnen. Wie oft mussten wir schon irgendeinen armen Techniker kurzfristig bitten, doch bitte noch ein Stativ zu besorgen.

Laptop oder Notizblock?

Für die Poet:innen gibt es verschiedene Optionen: Manche schreiben per Hand, Kuli, Schreibblock oder Notizbuch, fertig. Das ist einfach, aber auch schnell unübersichtlich. Besonders praktisch sind klappbare Laptops, die mit einem kurzen Griff zum Tablet werden. Darauf lässt sich schnell recorden, in fünf Sekunden aus PDF exportieren und umklappen, und schon kann man vom Tablet ablesen. Alternativ kann man in Cloud-Diensten speichern, und dann vom separaten Tablet, eBook-Reader oder vom Handy ablesen. Oder die Location hat eine Möglichkeit, noch schnell etwas auszudrucken, und du hast die paar entscheidenen Minuten Zeit, um deinen Text von Laptop auf Papier zu bringen.

Performen

In der Regel haben wir bei den straffen Zeitplänen eintägiger Konferenzen keine Zeit zum Proben. Es geht direkt von der letzten Zeile auf die Bühne. Charmante Anmoderation, ein kleiner Joke, und dann performen. Natürlich ist auswendig-performen hier meist nicht möglich. Aber: gute Performer:innen schaffen es trotzdem, nicht am Blatt zu kleben. Mit Gestik, Mimik und dem einen oder anderen Augenkontakt versuchen wir, dem Text Lebendigkeit einzuhauchen.

Und während viele Zuschauer:innen (besonders Slam-Unerfahrene) denken, die Auftritte seien das Herausfordernde oder Anstrengende – für uns sind sie eigentlich der entspannteste Moment des Tages. Denn jetzt ist ja ohnehin nichts mehr zu ändern am Text. Hier kommt natürlich die Erfahrung ins Spiel: Wer noch Auftrittsangst hat, ist noch nicht bereit für ein Poetic Recording.

Der Jackpot für Künstler:innen sind die zweitägigen Konferenzen, die nicht am Ende jeden Tages in einem Text münden sollen, sondern nur ganz zum Schluss. Am Abend des ersten Tages bleibt man zwar trotzdem möglichst lange, um auch die Aftershow und Absackerbiere noch zu recorden, aber dann kommt eine ganze Nacht ohne weiteren Input. Und so sitzen wir im Hotelzimmer und haben locker zwei drei Stunden Zeit, um an Zeilen zu feilen oder Performances einzustudieren.

Das macht das ganze nicht einfacher – schließlich sind wir trotzdem den ganzen Tag am arbeiten, und das sogar zwei Tage in Folge. Außerdem kickt der Künstler:innen-Perfektionismus härter: Schlimmstenfalls sitzt man bis nachts um vier an einem Absatz, weil man einfach noch nicht zufrieden ist. Aber natürlich können die Texte so auch noch ein bisschen ausgefeilter werden.

Wer bucht Poetic Recordings, und warum?

Das Wuppertal Institut, das Familienministerium und die Berliner Senatsverwaltung für Finanzen, Microsoft oder Salzgitter Flachstahl, der Deutsche Beamtenbund und die IG Metall, Landesenergieagenturen und die BVG, Diakonie und DRK. Ehrlich gesagt: alle buchen Poetic Recordings. Als Kiezpoeten führen wir jedes Jahr mehrere Dutzend Poetic Recordings durch, unsere Poet:innen sind von Düsseldorf bis Berlin bei zahllosen Tagungen und Events. Eintägig, zweitägig, mit Dresscode oder NGO-Rabatt, in Kombination mit Thementexten oder Live-Musik.

Viele davon hatten vor Poetic Recordings schon eine ganze Palette von Kongress-Zusammenfassungen ausprobiert. Graphic Recordings, Video-Recaps, Podcasts, klassische schriftliche Zusammenfassungen oder PowerPoints im Intranet. Meist war dann irgendjemand aus dem Orga-Team auf einer anderen Konferenz, und hat die Magie live in Action gesehen. Oft waren sie bis dahin noch nicht mal auf einem normalen Poetry Slam!

Umso beeindruckender ist der Effekt, der auch einen Großteil der Tagungsgäste trifft: Wenn man das letzte Mal (klassische) Gedichte in der Schule gelesen hat, bleibt so ein Poetic Recording wirklich im Kopf hängen. Denn anders als sonstige Zusammenfassungen, kann es nicht nur die Inhalte des Events einfangen – sondern besonders auch die Emotionen.

Die Live-Performance schafft eine tiefere Verbindung zum Publikum. Metaphern und Reime bleiben nachweislich länger im Gedächtnis und fördern so die langfristige Inhalte des Gelernten.

Was kosten Slam-Recordings?

Das kommt sehr auf die einzelnen Faktoren an: Wie viel Erfahrung hat der:die Poet:in? Ein Tag oder zwei? Wie weit ist die Anreise? Wie komplex ist das Thema, und haben unsere Poet:innen sich schonmal damit beschäftigt?

Ist es die Konferenz eines großen Unternehmens, oder eine Feier einen kleinen e.V.? Erzähl uns einfach von deinem Projekt, und wir machen dir ein individuelles Angebot!

Zur Größenordnung: Poetic Recordings unter 1.000€ netto Tagessatz sind unseriös. Auch beim besten Thema und dem gemeinnützigststen Kunden – wer in den Dumping-Bereich darunter vorstößt, hat in der Regel nicht die Erfahrung, die es für so ein Poetic Recording braucht.

Eine klare Obergrenze gibt es nicht, falls ihr z.B. auch Musik, Live-Kalligraphie, SlamTeams oder andere Gimmics dazubucht, kann es bis in den mittleren vierstelligen Bereich gehen. Die meisten Poetic Recordings werden zwischen 1.000€ und 3.000€ angesetzt.

Preisverleihung STADTRADELN am 12.12.2023 in Köln.

Wer macht sowas?

Poetic Recordings sind nicht jedermanns Sache. Es braucht viel Vorerfahrung, viel Sprachgefühl, Spontanität und Stressresistenz. Deshalb machen nicht alle Poetry Slammer:innen solche Poetic Recordings. Aus unserem Kiezpoeten-Team sind das vor allem Samson im humorvollen “Tageschronik”-Stil, Jesko und Lisa-Pauline im Reimformat, Alina in augenzwinkerndem Storytelling und Miko für englischsprachige Anlässe.

Gleichzeitig fängt jeder mal irgendwo an. Deshalb bringen wir auch weiteren Poetry Slammer:innen das Poetic Recording Handwerk bei. Zunächst durch Assistieren bei unseren regulären Recordings, dann durch “Nachwuchs-Poetic Recordings”, vor allem für gemeinnützige Kunden mit schmalerem Budget.