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Was ist ein Witz?

Als lustig wird meist empfunden, was nicht zu erwarten war. Das heißt umgekehrt nicht, dass alles, was nicht erwartet wird auch witzig ist. Der klassische Aufbau eines Witzes, also einer kurzen Geschichte mit Pointe besteht aus vier Teilen:

  • die Einleitung kennzeichnet die Geschichte als Witz
  • die Exposition stellt die Figuren vor und bestimmt den Rahmen der Handlung
  • die Complicatio, in der die Figuren handeln und eine eindeutige Interpretation durch die Zuhörenden herausfordert 
  • die Pointe enttäuscht die eindeutige Interpretation und zeigt den verborgenen Doppelsinn der Complicatio

Als simples Beispiel der Häschenwitz:

[Einleitung:] Kommt ein Häschen in ein Geschäft und fragt: “Haddu Möhrn?”, der Verkäufer verneint.
[Exposition:] Das Häschen geht wieder, kommt aber am nächsten Tag wieder und fragt erneut: “Haddu Möhrn?” , der Verkäufer vernent erneut. So geht das noch weitere vier Tage.
[Complicatio:] Am fünften Tag kommt das Häschen wieder ins Geschäft und fragt: “Haddu Möhrn?” Der Verkäufer hat extra Möhren besorgt und holt stolz eine Kiste hervor. “Ja”, sagt er, “heute habe ich Möhren.”
[Pointe:] Sagt das Häschen: “Muttu essen, sind gut für die Augen.”

In der Complicatio wurde die naheliegendste Interpretation forciert, nämlich dass das Häschen Möhren kaufen möchte. Die Pointe führt die Situation ad absurdum, indem sie einerseits einen Doppelsinn der Complicatio offenbart, der Gedanke, dass sich ein Häschen derart vehement um die Gesundheit eines Verkäufers sorgt ist dabei allerdings so abwegig, dass der/die Rezipient*in beinahe unmöglich von selbst darauf hätte kommen können.

Nun gibt es Slamtexte, in denen ab und zu ein witzige Stelle vorkommt, während eigentlich ein anderes Thema behandelt wird, und es gibt Slamtexte, deren einziger Zweck es ist lustig zu sein. Als Beispiel hier der Text “Ich hasse Menschen: Umzug” von Julius Fischer.

“Ich hasse Menschen: Umzug”, Julius Fischer, Poetry Slam TV

Auch dieser Text lässt sich in die oben beschriebenen Abschnitte unterteilen, wobei Einleitung und Exposition in wenigen Sätzen abgehandelt werden und im weiteren Text fortwährend Pointe auf Complicatio folgt, teilweise verschachtelt. Erst im letzten Satz “vielleicht wird er ja mein erster Freund” schließt Fischer die ursprüngliche Exposition “… vierter Stock, 60 Bücherkisten, keine Freunde” ab und findet damit zum übergeordneten Aufbau zurück. 

Um besser zu verstehen, wie etwas Lustiges entsteht, ordnen wir die Witze in drei Hauptkategorien – wie du siehst, tauchen sie alle auch bei Julius Fischers Text auf:

1. Überlegenheit/Schadenfreude

  • Wir erheben uns über das Witzobjekt: Fischer blickt eindeutig auf die Möbelpacker herab, da er gebildeter und wohlhabender ist. Einer davon ist sogar so ungeschickt, dass er im Laufe der Geschichte einen Arm verliert

2. Inkongruenz / Absurdes / Unerwartetes

  • Eine Handlung nimmt einen unerwarteten Ausgang: “Als der Wecker klingelt, bin ich sehr unfreundlich, vor allem zu meiner Freundin, aber auch die Dusche wird beleidigt, hör auf zu heulen – sage ich danach zu allen”
  • Völlig absurde Elemente: “Die neue Wohnung ist ein Schloss aus Gold”; “… sagt der Vorarbeiter, nachdem er den Eimer mit den Brötchen vom Mund abgesetzt hat”

3. Entlastung / Auflösung

  • Eine angespannte Situation wird aufgelöst: ständig wiederkehrendes “ach, na dann”, “… dem Kollegen hat’s den Arm abgerissen und die ganze Wand ist voll Blut. Das wird eh nochmal gestrichen. Ach, na dann.”

Natürlich gibt es noch eine Menge weiterer Möglichkeiten Humor zu erzeugen, wie Wortspiele (“Sachsismus” – Menschen die sächsisch sprechen), das Stilmittel der Wiederholung (“Hier Meister, Herr Frodo, Freund Blase”) oder auch Fischers unnötig detaillierte Erklärung der Funktionsweise seiner Kaffeekanne, die offensichtlich fehlplatziert seine Unsicherheit gegenüber den Möbelpackern verdeutlicht. 

Kurz gesagt, fast alles kann witzig sein. Nur durch Intonation und Platzierung im Text kann ein einzelnes Wort den ganzen Saal zum Lachen bringen. Was deinen Humor ausmacht, wirst du während des Schreibens feststellen, einige Pointen werden dir leichter von der Hand gehen als andere. Was davon dann auf der Bühne funktioniert, siehst du oft erst während des Auftritts. Deswegen solltest du einen Text nie als “der ist jetzt fertig, da geh’ ich nicht mehr ran” abstempeln und vor allem bei ganz neuen Texten kann es helfen, sich direkt nach dem Auftritt, wenn die Erfahrung noch ganz frisch ist, Notizen zu Pointen zu machen, von denen du denkst, dass sie noch besser hätten zünden können.